Der Geschichtenerzähler

Mein Vater war ein faszinierender Geschichtenerzähler – er vermochte ganze Tischrunden in den Bann zu ziehen.
Einige davon, wie auch die folgende, schrieb er auf. (Susanne Posegga)

Die Papierschlacht im Theater Wagram in Paris
(von Hans Posegga)

Ein Konzert. Das Kammerorchester Hans von Benda, Berlin, gab ein Gastspiel im Theater Wagram. Alles war bis auf den letzten Platz besetzt, auch der vierte und fünfte Rang bis an den Rand, proppevoll. Ein repräsentativer Querschnitt teutonischer Einheit in Sachen Kultur vom intellektuellen Reserve-Krummstiefel bis zum zackigen Soldaten, vom Kanonier Katschmarek bis zum höchsten Offizier.
Werke von Vivaldi, Boccherini, u.a. Haydn standen auf dem Programm.
Die Landser  fühlten sich herausgefordert. Ihr Verhalten war im Sinne 08/15 zunächst diszipliniert. Etwas jedoch lag in der Luft. Etwas wie eine Art festliche Stimmung machte sich zwar breit, je näher der Auftritt des Dirigenten heranrückte. Ein Schuss Heimat, Gruß aus der Ferne und so schwang da mit. Die Radiomeldungen hatten justament vorher unter Begleitung List’scher Triumphfanfaren über Schiffsuntergänge gigantischen Ausmaßes locker berichtet.
Herr von Benda vermittelte glaubwürdig Ethisches, Liebenswertes und die Hoffnung auf einen baldigen siegbelohnten Frieden. Erhaben, hehr und sehnsuchtsvoll erhoben sich Vivaldis Klänge in klassischer Strenge empor in jene Räume, die licht und hell und ohne Schatten sind. Irgendwo aber schlummerte der Schalk.

Es begann mit einer Kleinigkeit, sozusagen mit einem Versehen. Vom höchsten Rang aus war – sicherlich durch Zufall – ein Programm über die Brüstung ins Parkett herabgefallen. Das gefiel, das war menschlich, das kann passieren. Merkwürdigerweise segelte es, es war ja nur ein nicht sehr großer einseitig bedruckter Zettel – wahrscheinlich aerodynamisch bedingt ganz langsam hernieder, änderte mit einem leisen, hauchdünnen Geräusch (der Vivaldi erklang in diesem Augenblick im äußersten pianissimo und war gerade an einer Generalpause angelangt) seine Richtung und landete schließlich nach einer nochmaligen Kursänderung an einem völlig unerwarteten Platze im Orchestersessel. Jemand lachte leise. Herrn Benda und seinen Vivaldi störte das wenig. In barocker Erhabenheit klagte die Musik still vor sich hin.

Aber wie vorher erwähnt, die Einlage schien bei den Landsern Gefallen zu finden. Da, oberster Rang, wieder ein ähnliches Geräusch. Diesmal war es ein kunstvoll zusammengefalteter Flieger. Fast stromlinienförmig bewegte sich das „Fliegezeug“ mit raffinierter Eleganz durch den inzwischen aufgeheizten Theatersaal. Blitzmädchen kicherten schon etwas akzentuierter. Die Sache machte Schule. Es folgten Varianten des Unternehmens auch von den unteren Rängen her.

Inzwischen hatten die Fliegezeug-Erbauer in ihren Rang- und Logenwerften andere Fortbewegungstypen in höchst unterschiedlichen Größen und Formen entwickelt. Es bleibt mir bis heute unerfindlich, wie schnell sich dies abgespielt hat und ich habe nie begriffen, woher die Landser an diesem Platze solche Papiermengen herbekommen haben. Kurz – die Sache eskalierte zunächst in einer Art mittlerem Luftkampf — Pause — aber dann, man höre und staune.

Mit beinahe der Wucht eines Lastenflugzeugs segelte ein Riesenapparat aus derbstem Packpapier von oben. Das Geräusch entbehrte nicht einer überzeugenden Dramatik. Irgendwo ließ sich das Ding unter schallendem Gelächter des geballten Auditoriums schamlos auf dem Haupte eines Offiziers wie ein Riesenadler nieder. Damit war aber erst der eigentliche Luftkampf wie an einem Großangriffstage ausgebrochen. Das Orchester hatte inzwischen seine Vivaldi-Mission eingestellt. Was übrig blieb, war die Luftbataille aller verfügbaren Papiere. Es war wie bei der Speisung der fünftausend Mann. Kein Mensch hat je erfahren, woher die Unerschöpflichkeit der Papierdrachen kam. Irgendeine höhere Macht schien für ununterbrochenen Nachschub zu sorgen. Brüllen, Grölen, Beifall, Ovationen einerseits, Hand in Hand mit Beschimpfungen andererseits begleiteten dieses eigenartige Geschehen.

Als die Wellen der Papierschlacht verebbten, ergriff ein „Berufener“ aus dem Publikum das Wort und hielt eine ordnungsgebietende Ansprache.

Die Papierschlacht war ein Bombenerfolg. Vivaldi, Bocherini und Haydn schämten sich.

(Anm.: Ca. 1942 in Paris)

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